Es ist immer noch Pandemie, imfall. Besonders für die Pflegenden.

«Leben und Leben lassen» und «Soll doch jeder das tun, was er/sie für richtig hält», «das Covid-Zertifikat spaltet die Gesellschaft» und so weiter gilt erst dann, wenn wir als Gesellschaft der Meinung sind: jetzt ist Covid endemisch. Aber das ist kurz- und mittelfristig besonders aus Sicht der Pflegeversorgung nicht etwas, was man möglichst schnell möchte.

«Covid ist eh endemisch, also alle Massnahmen aufheben, die Pandemie ist vorbei!» Das gilt dann, wenn wir uns als Gesellschaft wie z.B. bei der Influenza auf eine vertretbare Anzahl Tote und Langzeitgeschädigte geeinigt haben werden, und das Pflegefachpersonal und die medizinischen Ressourcen, auch bei Spitex und Konsorten, mit dieser Einigung umgehen können werden. Wie’s den Betroffenen in Sachen Gesundheitsversorgung, etwaigen Anmeldungen zur Invalidenversicherung oder wie bei den gekündigten Longcovid-Pflegekräften gehen sollte, lassen wir mal aussen vor. Das machen wir ja sowieso bei vielen Krankheiten und Gebrechen seit langem. Covid und Longcovid werden sich da irgendwann neben Depression, Grippeschäden und Schleudertrauma einreihen.

Weniger Covid auf der IPS? Cool, dafür die ganzen verschobenen Behandlungen

Aber … davon sind wir in der Schweiz noch mindestens 3-4 Monate entfernt. Mindestens. Persönlich rechne ich mit 6-12 Monaten, optimistisch gesehen. (Falls man das Optimismus nennen möchte, vermeidbare Krankheitsfälle zu dulden.) Denn besagtes Pflegefachpersonal hätte auch gerne mal wieder «Normalzustand». Stattdessen ist seit bald 20 Monaten Dauerstress angesagt. Ist ja schön, wenn die Covid-Fälle auf der Intensiv und auf den Pflegestationen zur Zeit einigermassen stabil bleiben. Aber gleichzeitig werden zehntausende bisher aufgeschobene Behandlungen nach und nach abgearbeitet.

Entlastung der Pflegefachkräfte: Null. Jeder einzelne, jede einzelne Impfgegnerin, der / die sich ansteckt und behandelt werden muss, und jeder einzelne Covid-ist-nicht-schlimmer-als-Grippe-Mensch ist in diesem Zeitraum eine*r zu viel. Auch für diejenigen ohne kurzfristig lebensbedrohliche Erkrankungen oder Schädigungen, deren Behandlung aber halt einen IPS-Platz bedürfte, also mal so bis 2022 oder so aufgeschoben werden muss.

Winter is (perhaps? probably?) coming

Und nun ja, wir hatten gerade mal 3 Wochen Herbst. Die schön warm und angenehm waren. Draussen rumsitzen, jetzt sind gerade Herbstferien, alles super. Aber langsam kommt halt der Winter. Und der Schutz der Leute, die früh im 2021 geimpft werden konnten, lässt nach. Und wir haben für die westliche Welt fast einzigartig viele Ungeimpfte, und mehr und mehr Pflegende haben die Nase voll. Das Potential für einen pflegerischen GAU ist beträchtlich.

Wäre ich eine Skisport-Destination oder Gastro-Unternehmen, ich würde spätestens jetzt so viel für die Impfung, und mögliche Auffrischimpfungen weibeln, wie nur geht. Und als FaBe oder FaGe würde ich noch mehr Wind für die Pflegeinitiative machen, als bereits geschehen.

Und als Politiker*in? nun ja. Zum Glück für sie haben wir erst 2023 nationale Wahlen, das kann man wohl aussitzen. Tun jedenfalls viele dieser Leute seit bald 20 Monaten.

Für Print sieht es nicht gut aus

Heute hat das WEMF die aktuellen Reichweiten verschiedener Schweizer Print-Produkte – Zeitungen und Magazine – publiziert. Selbst die meistgelesene Zeitung der Schweiz hat fast 20 % an Reichweite eingebüsst.

Neue Zürcher Zeitung? -14 %. Aargauer Zeitung? -13 %. 20 Minuten? -19 %. «Meine» Haupt-Zeitung, St. Galler Tagblatt incl. Regionalzeitungen, hat’s mit -2 % noch einigermassen glimpflich erwischt. Aber die aktuellen WEMF-Zahlen sind deutlich: Print, so, wie wir ihn seit ca. 1780 kennen, stirbt einen langsamen, langsamen Tod.

Keine Überraschung, aber weiterhin ein Problem

Gut, das kommt nicht wirklich überraschend. Und für viele Leserinnen und Leser dürfte sich die Frage stellen – jo, und nu? Die Zahlen in digitalen Formaten steigen, klar sinken im Gegenzug die Totholz-Anteile? Das mag so sein. Aber ignoriert die Art und Weise, wie viele Journalisten und Journalistinnen, Reporterinnen und Reporter arbeiten, mit der (mehr oder minder) klaren Arbeitsteilung, Vieraugen-Prinzip, Blattmacher*innen, Korrektorat und so weiter. Es wird interessant sein, zu sehen, wie 20 Minuten mit der neuen «social-first»-Strategie zurande kommen wird – immerhin entscheiden dann die Menschen am Social-Desk oder vielleicht gar die Berichtenden live vor Ort, wie Lead und Anriss des Beitrags aussehen sollen, und wann und wo er erscheint.

Problem (nicht nur) für freie Mitarbeitende

Kurz – für Redaktionen ist’s nicht einfach nur ein Medienwechsel. Es ist auch ein Wechsel im Workflow, in der Firmenkultur und führt gegebenenfalls zu einem veränderten Qualitätsanspruch. Schwierig kann das für freie Mitarbeitende werden, denn diese arbeiten in der Regel für verschiedene Redaktionen, die mehr oder weniger weit in diesem Medienwandel-Prozess fortgeschritten sind. Damit wird einerseits eine etwaige Zweitverwertung aufwendiger oder verunmöglicht. Andererseits verpassen sie als «Freie» interne Weiterbildungen oder informell an der Kaffeemaschine bestimmte Konventionen und Regeln.

Wandel kann man nicht aufhalten, höchstens ausbremsen. Persönlich begrüsse ich es, dass mein Altpapierstapel zunehmend an Umfang verliert. Moderne Displays sind für mich gut genug, um auch lange Beiträge zu lesen. Meinen Einstieg als Reporter hatte ich in reinen Online-Medien, als freier Mitarbeiter muss ich mich eh an zig verschiedene Vademeca und Vorgaben halten – die eine Publikation möchte nur Bilder im 16:9-Format, die andere mit runtergeschraubtem Kontrast für die Offset-Maschine. Die eine gendert mit Sternchen, bei der anderen streicht das Korrektorat alles Gegenderte raus, die dritte hat gar kein Korrektorat. Also business as usual für mich und meine freiberuflichen Kolleg*innen? Irgendwie schon. Aber wie gut Redaktionen als Gesamtes, mit ihren gewachsenen Strukturen, Aufgaben, Funktionen und Abläufen, damit klar kommen? Da wird es interessant bleiben. Und ich kann es verstehen, wenn es etwas länger dauert, bis sich das einigermassen eingependelt hat.

Irgendwie habe ich ein Jahr verpasst

Geht es nur mir so, oder hat die Pandemie das Zeitgefühl verschoben? Ich war heute das erste Mal seit meinem letzten Beitrag auf meiner eigenen Homepage, ohne, dass ich es bemerkt hätte.

Das Coronavirus hat neben Streitereien betreffend Zertifikaten, Impfungen, Massnahmen generell für mich persönlich in den letzten 20 Monaten auch für etwas ganz Ungewohntes gesorgt: Eine Art Zeit-Dehnung. Ich weiss manchmal nicht mehr, welcher Wochentag ist, oder welcher Monat. Oder wann Dinge geschehen sind, wunderbare Dinge, die ich noch 2019 an die (nervige) supergrosse Glocke gehängt hätte. Ich mein …

Dieses Jahr ist endlich ein Update zu meinem Buch über Capture One Pro erschienen (danke, Frank). Das sollte man doch gross auf Social Media bewerben? Und besonders auf seiner eigenen Homepage?

Frank Treichler, Sascha Erni: Capture One Pro (21) verstehen und anwenden

Ich hatte diese, meine eigene private, seit 20 Jahren bestehende Website komplett vergessen. Ich dachte, ich hätte da ständig Publikationen und Ereignisse und interessante Blog-Beiträge nachgeführt. Nein, mein letzter Beitrag ist aus der Silvesternacht 2020. Hatte ich nicht bemerkt.

Und dabei wurde nggalai.com dieses Jahr 20 Jahre alt! Zeit zum feiern! What a ride it has been!

Vergessen. Ignoriert. Ging unter. Dachte, hätte ich schon gemacht. Dachte, die Website gäbe es noch nicht so lange. Dachte, ich hätte sie eh gelöscht, weil anderes wichtig ist.

Oder … ich hatte meine ersten Live-Auftritte seit langer Zeit, und davon gleich mehrere. Denn im Dezember letzten Jahres wurde ich Bassist bei Scream Therapy. Wieder ein Grund, zu feiern! Ja, aber nicht hier auf meiner Homepage. Dabei hätte ich schon vor Wochen zum Beispiel das hier reinhängen können:

Nix. Nada. Hatte meinen eigenen verf*ckten Webspace vergessen.

Und so vieles Anderes ging vergessen, ging unter.

Es ist immer noch Pandemie, leider, und die Schäden schlagen sich nicht nur in den Fallzahlen nieder. Die psychologische Komponente darf nicht vergessen werden, noch für viele Jahre, nachdem Corona endlich «durch» sein wird. Wir sind individuell und als Gesellschaft aus dem Tritt gekommen, könnte man sagen. Manche versuchen, das mehr oder weniger erfolgreich zu übertünken, feiern Covid-Zertifikat und Impfrate als Schritte «zurück zur Normalität». Andere bekämpfen die Massnahmen wider jeglicher Vernunft, weil sie besagte Normalität «gerne zurück hätten» und dafür die laufende Pandemie gerne ignorieren möchten. Ich persönlich halte mich an die Realität und bin entsprechend im Team IMPF DICH ENDLICH MEINE FRESSE WAS STIMMT NICHT MIT DIR, aber dieser Drang, dieses Ziel, zurück zu einer präcoronaiden Realität zu gehen, scheint so oder so in der breiten Bevölkerung unglaublich stark.

Aber bei diesem ganzen Zurück… bleibt leider die Gegenwart, und auch die Zukunft, auf der Strecke, denke ich. In dem Moment jedoch wo ich heute eine Malware-Warnung reingeschneit bekommen habe, erscheint mir die Gegenwart als wichtiger. Nicht was war, oder was sein könnte, sondern das Jetzt. In der dann ein Erni (oder sonst jemand) rumsitzt und sich erstaunt die Augen reibt: Was, das hatte ich ganz vergessen?